Von Harald Landgraf
Ich war dabei! Ich bin der letzte noch lebende Mitarbeiter bei der technischen Herstellung der Gutmannstraße, der die gesamte Bauzeit überblicken kann. Die „Gutmannstraße mit Wendeplatte“ hat eine lange Geschichte, 65 Jahre, so lang, daß die einstigen Bewohner, welche die Straßenbaurechnung der Stadt München bezahlen sollten, schon lange tot sind.
Ich erzähle diese merkwürdige Geschichte für die nachkommenden Bewohner, um sie vor dem Vergessen zu bewahren.
1945
Die Geschichte der Gutmannstraße mit Wendeplatte in der Fasanerie-Nord beginnt für mich viel früher und an einem anderen Orte.
1945, in den letzten Tagen des Krieges, war in Salzburg ein Güterzug der Wehrmacht abgestellt. Er enthielt ein Fernmeldegerät. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren bei der Plünderung dieses Zuges dabei. Die Beute: zwei Feldfernsprecher, Teile einer Feldvermittlung und Verbindungskabel. Bei dieser Plünderung ahnte ich noch nicht, daß ich bereits im Alter von drei Jahren einen wichtigen Beitrag zur technischen Herstellung der späteren Gutmannstraße mit Wendeplatte geleistet hatte. Doch davon erzähle ich später.
1948
Für die Notwendigkeit einer Wendeplatte für Automobile schildere ich kurz die Verkehrsverhältnisse der damaligen Zeit.
Bei Kriegsbeginn wurden viele Motorfahrzeuge eingezogen. Darunter eines aus der Nachbarschaft, das aber gleich zusammengebrochen ist. Es hatte für die zukünftige Wendeplatte keine Bedeutung mehr.
Bei Kriegsende besaß der Krämer noch einen Opel P4, eines der ganz wenigen verbliebenen Autos in der Fasanerie-Nord. Ich wurde zur Bewachung mitgenommen, wenn es abgestellt war.
Die Straßen waren damals ausreichend sicher. Die Fasanerie-Nord besaß zwei Verkehrsschilder: Achtung Bahnschranke! sowie zwei Straßenlampen mit Glühbirnen, die aber häufig nicht brannten, weil wir mit selbstgebauten Steinschleudern auf die Birnen zielten.
Nur die unterbrochene „Äußere Feldmochinger Straße“ hatte Granitsteine, alle anderen Straßen hatten einen Kiesbelag mit vielen Schlaglöchern, fast wie Mondkrater. Allerdings, die Wasserpfützen ablaufen zu lassen, war für uns Kinder eine willkommene Beschäftigung.
Aber man sollte die Verkehrsbelastung der Äußeren Feldmochinger Straße aus dieser Zeit zur Beurteilung heranziehen. In der Schulzeit gingen wir von der Fasanerie nach Feldmoching zu sechst nebeneinander auf der Straße. Manchmal kam ein Pferdefuhrwerk, ganz selten ein Auto. Dieser „Verkehr“ wurde aber irgendwann drastisch verringert. Am Blütenanger hielt jetzt ein ehemaliger Wehrmachtsbus, in den alle Schulkinder hineingedrückt wurden, um sie zur Schule nach Feldmoching zu bringen.
1950
Anfang der 50er Jahre haben meine Eltern ein Baugrundstück am Ortsende der Fasanerie-Nord gekauft. Es war noch brachliegender Acker. Aber der noch nicht existierende Weg dorthin hatte schon einen amtlichen Namen: U 306.
„U“ bedeutete „unbenannte“ – leicht zu merken. Ich dachte sofort an ein
U‑Boot. Kaum 100 m entfernt war doch der Baggersee. Wir hatten ein Faltboot, den „Sumpfdonner“. Das war ab jetzt unsere „U 306“, erbaut in der Zwischen-kriegszeit. Sie mußte vor dem Auslaufen immer wieder geflickt werden, sonst wäre sie untergegangen. Ein Nachbar hatte einen Anker mit einer 10 m langen Kette. So stachen wir mit der „U 306“ in See und ließen erwartungsvoll irgendwo den Anker ins Wasser fallen. Daran hingen dann Karabiner, Tränen-gaskisten, Phosphorbomben, manchmal eine sechseckige Stabbrandbombe. Hätte man die amtliche Bezeichnung als passenden Straßennamen belassen, so wäre den Fahrten unserer „U 306“ ein würdiges Andenken bewahrt worden. Aber nein, die Stadt München wollte lieber den Namen „Gutmannstraße“!
Die Fläche für die zukünftige Gutmannstraße mußte abgetreten und der Humus bis auf den Kiesgrund von uns abgetragen werden. Mein sechs Jahre älterer Bruder und ich, inzwischen zehn Jahre alt, wurden von meinen Eltern zum Arbeitseinsatze zwangsverpflichtet.
Das technische Gerät trugen wir zu Fuß bis zur Einsatzstelle an der Gutm… –
Nein! Ich wollte an der „U 306“ wohnen. Dieser Straßename wäre ange-messener gewesen! Als erstes holten wir die Kohlenschaufel aus unserem Keller. Dann kamen ein Pickel und eine weitere Schaufel hinzu, die waren neu gekauft. Als nächstes der kleine Leiterwagen mit vier Holzscheibenrädern, noch aus der Vorkriegszeit. Wegen der Gitterstäbe wäre die Erde herausgefallen. Deshalb holten wir aus der Schuttgrube an der Lerchenauer Straße leere Wachskartons der U.S. Army, um die Lücken zu schließen. Jetzt fehlte noch ein Wurfgitter wegen der großen Steine, die im Straßenbette zurückbleiben sollten. Ein solches hatten wir nicht. Es wäre auch zu teuer gewesen. Von irgendwo her hatte mein Vater einen eisernen Bettgestellrahmen mit Stahlfedern. Die Löcher im Gitter waren für die Steine viel zu groß. Sie wurden nun mit den Feldtelefon-verbindungskabeln aus dem geplünderten Güterzug der Wehrmacht deutlich verkleinert. Nur so konnte die technische Herstellung der Gutmannstraße, aber noch ohne Wendeplatte, beginnen – mit uns: „Zur Meldung! Besatzung der
U 306 vollständig zum Einsatze mit Schaufel angetreten!“
Diese Plackerei dauerte aber nicht lange. Der Nachbar Schwarz verstand sich auf das „organisieren“ eines Baggers. So sagte man damals bei Dingen, die man schwer oder überhaupt nicht bekommen konnte. Waren es „unterirdische“ Wege zu einem Baggerführer? – Wir wissen es nicht. Jedenfalls wurde die ober-irdische Humusdecke unserer „U 306“-Straße ausgebaggert und auch noch gleich die Baugruben für die Keller von Anliegern ausgehoben.
13.9.1955
Jetzt wurden von der Stadtverwaltung für die Gutmannstraße und die Leonhard-Bugl-Straße „verbindliche Straßenbegrenzungslinien festgelegt, die einen Wendeplatz am östlichen Ende der Gutmannstraße“ vorsahen. Die Wende-
platte?! Wurde die Absicht der Stadtverwaltung geheim gehalten? Oder dachte man an ein tausendjähriges Bauwerk, oder plante man bereits die jahrzehnte-
lange Bauzeit? Wo waren die Autos für den Wendeplatz? Die Anlieger benützten zu dieser Zeit Fahrräder! Ich kann mich nicht entsinnen, damals etwas von einer Wendeplatte gehört zu haben. Und wo war dafür der Platz? Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, die Wendeplatte am Ende der Gutmann-straße in die Porreebeete der Gärtnerei Bihler zu pflanzen – aber ohne Erlaubnis!
1.7. bis 15.9.1966
Die Stadt baut – 11 Jahre sind inzwischen vergangen – eine provisorische Straße, jedoch keine Wendeplatte.
1992
Es folgt nun von 1966 bis 1992 eine Denkpause von 26 Jahren in der Stadtverwaltung. Die Nachbarin Schwarz im Nachlaß hat eine Rechnung von 1992 über 5800 DM für die Fertigstellung der Gutmannstraße gefunden.
Die Gutmannstraße wurde also abgerechnet. Von einer Wendeplatte ist nichts mehr zu lesen.
In diese Zeit fällt auch der erfolglose Versuch, die erforderliche Fläche vom Nachbarn Bihler zu kaufen. Hierüber ist aber nichts bekannt.
2007
Die Stadt ist endlich – nach weiteren 15 Jahren! – Eigentümer der Fläche für den Wendeplatz. Eine Notwendigkeit für die Wendeplatte besteht aber offensichtlich noch immer nicht.
2020
Die Stadt baut in höchster Eile die Wendeplatte – sofort! Der Beschluß von 1955 – 65 Jahre Verspätung!!! Wie konnte die Stadtverwaltung das so lange über-sehen? Die Baugeschwindigkeit überschlägt sich. Die Zeit, um die Anwohner zu informieren, ist zu knapp. Baumfällung, Pflanzen zerstören, Boden versiegeln, umweltfreundlich? Autos? Unwichtig! Hauptsache die Platte!!!
2021
Jetzt die Rechnung bitte, aber schnellstens nachreichen! Warum wurde sie nicht schon vor Jahrzehnten geschrieben? Die erbrachten Leistungen kann man weglassen. Die Bürger sollen zuerst zahlen. Eine Begründung kommt, wenn überhaupt, dann nur auf Anforderung, später. War der Grund die ablaufende Frist von 30 Jahren für Rechnungen?
65 Jahre lang mußten die von der Stadt München vernachlässigten Bürger der Gutmannstraße ohne Wendeplatte darben. Jetzt wird sie täglich schon von etwa drei Fahrzeugen benützt.
So endete der städtische Beschluß aus dem Jahre 1955 für die kleine Wende-platte in der Gutmannstraße. Man rechne einmal die Zeiten zusammen, in denen man die Rechnung hätte schreiben können ! Siehe die ZEITTAFEL im Anhang.
Ich schließe den Kreis meiner Baugeschichte der Gutmannstraße mit Wendeplatte. Noch einmal überblicke ich die Zeitspanne von 75 Jahren.
Sie beginnt mit einer Plünderung.
Und sie endet mit einer Plünderung.
Jetzt trifft sie die erschrockenen Bewohner der Gutmannstraße mit ihrer neuen Wendeplatte. Sie sollen mehr als eine Viertelmillion Euro an die Stadt-verwaltung entrichten – Lösegeld für ein Bauwerk nach den Plänen von 1955, ein Bauwerk, das nie gebraucht wurde.
Bildquelle: Google Maps