Schuljahre in Feldmoching (1948 – 1951)
aufgezeichnet von Harald Landgraf
Nichts, was groß ist auf dieser Welt, ist den Menschen geschenkt worden. 1940
Beim Lesen der steinernen Inschrift über dem Eingang der Feldmochinger Schule wird meine Kindheit und Schulzeit kurz nach Kriegsende wieder lebendig. Es war eine armselige, düstere Zeit.
Ich betrachte die alten Klassenfotos, und es kommt mir vor, als ob wir Kinder von damals doch anders gewesen waren als die Jugend von heute. Manche sehen verdroschen, bedrückt und verstört aus. In Gedanken höre ich wieder, wie in der Klasse die Namen aufgerufen werden. Der Vater? – vermißt – gefallen. Und dann fällt mir das Lied aus Kindheitstagen wieder ein: „Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg, die Mutter ist in Pommerland, und Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg…“ – Die Flüchtlingskinder in unserer Klasse waren in den vorherigen Kriegsgefangenenlagern in der Fasanerie untergebracht. Ich denke an Willi, einen meiner Spielkameraden aus dem Lager. Er hatte ein hölzernes Bein ab dem Knie. Sein vieles Spielzeug aus Holz konnt ihm das fehlende Bein nicht ersetzen. Die Erinnerung an die Wohnraumbeschlagnahme für Ausgebomte bei uns im Hause reißt mich aus der Grübelei heraus. Ich sehe wieder den Schulanfang vor mir.
In der ersten und teilweise zweiten Klasse hatte ich Lehrerin Weitl im Unterricht. Das Klassenzimmer war überfüllt. Fast 60 Schüler saßen in drei langen Bankreihen hintereinander. Im Laufe der Zeit wurden wir nach der Begabung zusammengesetzt. In der rechten Reihe bei der Türe saßen die besseren Schüler, in der mittleren die durchschnittlichen und in der linken Reihe beim Fenster die schlechten Schüler.
Lehrerin Weitl habe ich als sanftmütige, gefühlvolle, liebenswerte Frau in Erinnerung. Ich sehe sie heute noch in Gedanken im Musikraum am Klavier sitzen. Wir mußten das Lied lernen: „Grün, grün, grün sind alle mein Kleider, grün, grün, grün ist alles was ich hab, weil mein Schatz ein Jäger, Jäger ist.“ Das wurde in allen Farben durchgesungen, jeder konnte sich dazu einen anderen Schatz ausdenken. Am Ende meldete sich der Körprich Rudi, er war der Lustigste in der Klasse: „Grau, grau, grau sind alle meine Kleider…“ – Lehrerin Weitl am Klavier begleitend, stutzte. – „Grau, grau, grau ist alles was ich hab, weil mein Schatz – ein Geist ist.“ Und dann ist er lachend ganz schnell davongelaufen.
Ein Schulausflug kommt mir in den Sinn. Wir gingen zu Fuß durchs Moos ins Schwarzhölzl. Bei einem Föhrenwald neben einem Bach haben wir zum Essen Pause gemacht. Der Giesiebl Helmut, der in der Klasse hinter mir saß, hat als einziger auch an seine Mutter gedacht. Für sie hat er „Reiseandenken“ gesammelt – gewöhnliche Kieselsteine, die er in seine Brotzeittasche einfüllte und mit nach Hause nahm, um ihr eine Freude zu bereiten.
Zum Schulbeginn, im Jahre 1948, trugen manche meiner Schulkameraden noch die soliden Ledergürtel der Hitlerjugend, mit Hakenkreuzschloß. Lehrerin Weitl war darüber entsetzt und hat es verboten. Zu groß war die Furcht vor einer Kontrolle der amerikanischen Besatzungsmacht. –
Doch damals hat man einfach alles irgendwie Brauchbare weiterverwendet, was der Krieg übrig gelassen hatte, denn kaufen konnte man kaum etwas. Die Reichsmark war nichts mehr wert, und die Lebensmittelmarken bis zur Währungsreform reichten kaum aus zur Ernährung. Meine Eltern hatten für den Gemüseanbau ein Ruinengrundstück im Eggarten zugewiesen bekommen und ein Stück Acker mit vielen Wühlmäusen beim einstigen Lager. Für das Fleisch hatten wir einen Hasenstall im Hof. Im Sommer gingen wir zum „Ähern“, zum Ährensammeln auf den gemähten Feldern. Aber die Bauern hatten so wenig übriggelassen, daß man nach einem ganzen Nachmittag nur ein Ährenbüschel zusammengesucht hatte, das leicht auf dem Fahrradgepäckträger nach Hause gebracht werden konnte. Immerhin hatte meine Mutter auf diese Weise ein Säckchen Getreidekörner, die sie auf dem Ofen für den Kaffee rösten konnte.
Aber einmal hatte sie etwas mehr Glück. Rollen doch eines Tages mitten im Sommer in einer riesigen Staubwolke zwei amerikanische Armeelaster durch die Himmelschlüsselstraße, in der ich wohnte, hoch beladen mit Säcken, überqueren die Bahn, und fahren direkt zum Ackermannsee (heute Fasaneriesee) bis zu einem Steilufer. Dort kippen sie ihre Fracht in den See. Es waren Säcke mit verdorbenem Mehl. Die Nachricht hat sich blitzartig in der Fasanerie verbreitet – damals ganz ohne Telefon. Meine Mutter hat, ohne zu überlegen alles liegen und stehengelassen, sofort die Einkaufstasche und einen Teigschaber ergriffen und ist schnellstens auf einem Abkürzungsweg zum Baggersee geradelt. Natürlich hatten die Badenden längst alle Säcke, die nicht ins Wasser gerutscht waren, beschlagnahmt. Jedoch waren viele der Säcke aufgeplatzt im Wasser gelegen. Meine Mutter ist gleich mitsamt den Kleidern bis zum Bauch hineingegangen und hat den nassen Mehlbrei vom Grund in ihre Einkaufstasche geschöpft. Zu Hause wurde das Mehl getrocknet und die Mehlwürmer wurden ausgesiebt. Und dann buck meine Mutter wohlschmeckende Weihnachtsplätzchen mitten im Sommer …
Kohlen zum Heizen gab es kaum. Die Hausbewohner haben irgendwann einen Lastwagen aufgetrieben, wohl einen Holzvergaser, denn Benzin gab es fast nicht mehr, um damit Bruchholz aus dem Wald von Grafrath zu holen. Dieser Wald wurde nach einem schweren Luftangriff auf München durch den nachfolgenden Feuersturm umgerissen.
Später wurden riesige Flugzeug-Propeller mit hölzernen Flügelblättern, wahrscheinlich von Bombern, auf der Wiese neben dem Hause abgeladen, zum Zersägen und Verheizen. Am besten aber brannte die Wachsverpackung amerikanischer Armeekisten, die in die Grube an der Lerchenauer Straße neben der Bahn gekippt wurden.
Da muß ich wieder an unseren Küchenherd denken. Die eine Hälfte war für eine kleine Kohlenfeuerung, die aber nur wenig wärmte, mit Ringen, die man aus der Herdplatte heraushob, um die Töpfe über das offene Feuer setzen zu können, die andere Hälfte hatte drei elektrische Kochplatten. Die erste Platte war sehr groß und brauchte zuviel Strom, die zweite ging gar nicht, und die dritte wurde zwar etwas warm, jedoch mußte man sie vorher rütteln, denn sie steckte gefährlich locker in der Herdplatte. Noch mehr behindert wurde das Kochen durch häufige Stromsperren. – Glaube aber niemand, die Fasanerie wäre bei Stromausfall nachts in völlige Finsternis versunken – nein! Dafür hatte man in allen Haushalten schon Kerzen bereitgehalten – aber einer im Orte hatte doch tatsächlich trotz totaler Stromsperre immer richtiges elektrisches Licht – und das war ausgerechnet auch noch dazu einer der Ärmsten! Dies war so aufsehenerregend, daß es gleich überall beredet wurde, und jeder mußte dieses Wunder unbedingt gesehen haben. Er hauste in einer schiefen, feuchten Bretterhütte in der hintersten Fasanerie am Reigersbach, fern der Lichtleitung. Dort hatte er sich ein hölzernes Wasserrad gebaut, in den Bach hineingestellt und vermutlich damit einen Fahrraddynamo angetrieben, der ein winziges Lämpchen in seiner Hütte zum Leuchten brachte …
Auch zwei Weihnachten nach dem Kriege kommen mir wieder in Erinnerung. Das erste war für mich äußerst bescheiden: ein Stofftier und ein blecherner Kran, der auf den Filter einer Gasmaske aufgesetzt worden war. Beim zweiten Weihnachten bekam ich tatsächlich eine kleine blecherne Eisenbahn zum Aufziehen. Mein Vater hatte sie gegen eine silberne Uhr eingetauscht.
Später mußte ich an Weihnachten beim Aufstellen des Christbaumes helfen. Wir hatten einen alten Christbaumständer, eine runde Zementplatte mit einem Rohr in der Mitte, das jedoch sehr locker war. Trotz vieler Keile stand der Baum immer schief – ein unerträglicher Anblick für meinen Vater. Deshalb holten wir den Küchenhocker, drehten ihn um und banden den Baum mit Draht und Schnüren an den Füßen fest und verdeckten diesen wackeligen Pfusch mit einem Tischtuche – vergeblich. Schließlich sagte mein Vater zu mir: „Weißt du was? Schenken wir uns zu Weihnachten einen Christbaumständer…“
Bei den „Hamsterfahrten“ zu den Bauern aufs Land, etwa im Güterzug mit offenen Waggons bis nach Langenbach in Niederbayern, brauchte man etwas zum Tauschen. So hat mein Vater für Weihnachten Wachskerzen gezogen und diese an – wahrscheinlich auch Feldmochinger – Bauern vertauscht. Hierfür war ein gläsernes Tablettenröhrchen nötig mit einem darin versenkten Docht. Was aber tun, wenn es gar kein Wachs gibt, von einem Dochte gar nicht zu reden? Mein Vater hat in einem Topf irgendeine unerklärbare Masse zusammengeknetet und daraus die Kerzen gegossen. Beim Weihnachtsfest sind diese Kerzen auf unserem eigenen Christbaum sofort erloschen – und bei den Bauern sicherlich auch.
Aus dieser Hamsterzeit ist noch ein Kinderbuch erhalten geblieben, für das meine Mutter Gedichte geschrieben und mein Vater die Bilder gezeichnet hatte. Die Seiten wurden durch Lichtpausen vervielfältigt und gebunden. Dann kamen die Kinder aus der Nachbarschaft und halfen alle mit beim Anmalen der Zeichnungen. –
In der ersten Klasse begann auch der Religionsunterricht beim Geistlichen Rat, ein älterer, dicklicher, schwarz gekleideter Herr. An die erste Stunde erinnere ich mich noch genau. Wir zeichneten die Stadtansicht von Jerusalem. Das hat mich sehr beeindruckt. – Aber der Geistliche Rat erwartete auch, daß wir jede Woche einmal zum Schulgottesdienste erschienen, vor dem Unterricht. Im Religionsunterricht mußte dann jeder aufstehen, der nicht im Schulgottesdienst gewesen war. Und der Geistliche Rat hat gedroht: „Ich werde euch schon noch kreuzigen!“ Ich gehörte natürlich immer dazu, verständlich, denn ich hatte ja einen Schulweg von etwa einer Stunde von der Fasanerie bis nach Feldmoching.
Ganz rein katholisch war unsere Klasse nicht. Ein Schüler war evangelisch. Der mußte zum Religionsunterricht in das ältere Schulhaus hinübergehen. Für uns war eine solche Religion schon sehr fremdartig und unpassend.
Um 10 Uhr war Pause und es gab die Schulspeisung der Amerikaner. Beim überdachten Weg vor dem Schuleingang wurde ein großer Behälter abgeladen, vor dem wir uns alle anstellten, und jeder bekam einen großen Schöpflöffel Erbsensuppe oder Grießbrei mit Rosinen in seinen Essenstopf. Manchmal gab es auch etwas Besonderes – Kakao und Kuchen. Und dann sind wir im Schulhof herumgelaufen wie alle Kinder, mit einer einzigen Ausnahme: der Jahnke Walter. Der hat sich immer als Soldat gefühlt, und dementsprechend war seine Sprache militärisch geprägt. Er kämpfte auf dem Schulhofe stets mit einem unsichtbaren Feinde, das Maschinengewehrfeuer war deutlich zu hören – so, als ob immer noch Krieg gewesen wäre.
Wegen des weiten Schulweges durfte ich im Winter mit der Eisenbahn von der Fasanerie nach Feldmoching fahren. Fahrkarten waren so kurz nach Kriegsende sehr teuer und es fuhren erst wenige Züge. Für eine Schülerermäßigung mußte die Schule ein Antragsformular ausfüllen, das am Fahrkartenschalter vorzulegen war. Nur mit diesem Antragsformular und der Fahrkarte zusammen konnte ich die Bahnsteigsperre passieren und die zwei Kilometer mit der Eisenbahn fahren. Für mich war dies schon wie eine richtige Reise, ganz auf mich gestellt, natürlich in der III. Klasse mit Holzbank. Anfangs fuhren noch die schwarzen preußischen Coupé-Waggons, die außen lange Trittbretter und zu jedem Abteil eine eigene Türe hatten. Das Einsteigen war aufregend, weil es schnell gehen mußte: Türe auf, alles besetzt, Türe zu – nächste Türe, dasselbe – dann Halt! – Schwerbeschädigtenabteil! – schnell weiter – endlich irgendwo einfach zwischen die sitzenden Fahrgäste hineinzwängen. Fertig! – Später fuhren die Züge mit den „Donnerbüchsen“, Waggons, die an beiden Enden eine offene Plattform hatten, und Scherengitter, die heruntergeklappt wurden. Von der zugigen Plattform aus hatte man eine schöne Aussicht.
Vor der Fahrt legten wir manchmal ungültige Reichsmarkmünzen auf die Schienen und ließen sie vom Zug plattwalzen.
Ein anderes Bild steigt bei der Eisenbahnfahrt wieder aus der Erinnerung auf. Ich habe nach Kriegsende auf einem Abstellgleis des Schleißheimer Bahnhofes in langer Reihe die von Tieffliegern zerschossenen und ausgebrannten Dampflokomotiven gesehen. Mein Bruder und ich sind auf eine solche Dampflokomotive hinaufgeklettert und wir haben uns im zerstörten Führerhaus die verbogenen Hebel und gesprungenen Instrumente angesehen. Dann sind wir über den getroffenen Kessel geklettert und vorne bei der Rauchkammertüre wieder heruntergestiegen. Ein unvergeßlicher Eindruck.
In der dritten Klasse hatte ich Lehrer Amann. Die Zeit der Schiefertafel war beendet. Ab jetzt mußten wir mit Tinte in Hefte schreiben. Es mangelte an Schulbüchern, und sie wurden deshalb von der Schule nur äußerst ungern ausgegeben, vor allem die kostbaren, aber zerfledderten Rechenbücher. Deshalb hat man uns in der Schule gesagt: „Mit eigenen Büchern lernt es sich sicher besser!“ Aber Bücher zu kaufen war natürlich für viele Eltern zu teuer. Doch ein Buch hatte auch ich von zu Hause. Es war das alte Religionsbuch meines Bruders. Dieses Buch war aber nicht in der Deutschen Normalschrift, in Antiqua, gedruckt, sondern noch in der alten Frakturschrift. Immerhin waren die Bilder dieselben. Wenn ich daraus vorlesen sollte, habe ich einfach gesagt, ich kann es nicht. Die Buchstaben sind alle so eckig, daß ich sie nicht lesen kann. Lehrer Amann hat erst gestutzt, nachgeschaut und dabei die Stirn gerunzelt, und dann den nächsten Schüler aufgerufen.
Eine wichtige Neuerung gab es in der dritten Klasse bei der Schreibschrift. Lehrer Amann hat das neuartige g riesengroß an die Tafel geschrieben. „Das g hat unten ein Eck“, hat er gesagt. Wir durften jetzt beim kleinen g unten die Schleife nicht mehr gebogen schreiben, wie bisher, sondern das g hatte ab jetzt unten „ein Eck“ zu haben. Wehe dem, der kein Eck gemacht hatte! Meine Mutter hat mir beim Schreiben der Hausaufgaben zugeschaut, ich mußte eine ganze Seite Wörter mit vielen dieser eigenartigen g schreiben, wie flügge, Egge und Bagger, und sie hat den Kopf geschüttelt. Aber im Laufe der Zeit wurden die g in der Klasse natürlich wieder zusehends runder. Kindern muß man ja alles hunderttausendmal sagen. Deshalb erschien von Zeit zu Zeit das g immer wieder riesengroß an der Schultafel, und ich höre Lehrer Amanns scharfe Stimme: „Das g hat unten ein Eck“…
Der Unterricht war für ihn häufig verzweifelt anstrengend, bis hin zur Erschöpfung. Die schlechtesten Kinder hatte er vor der Tafel im Kreise versammelt und mühsam Aufgaben immer noch mit den Fingern rechnen lassen – anders ging es nicht. Lesen mit dem Finger Wort für Wort war ähnlich schwierig, häufig war es nur ein Stottern. Die übrigen Kinder mußten währenddessen untätig und still in ihren Bänken sitzen. Irgendwann ist er hinter die Tafel zum Waschbecken gegangen und hat aus einem Schöpflöffel Wasser getrunken. – Oft ein wütendes Herumschreien. Einmal hat er einen Schüler niedergeschlagen, bis er blutend am Boden liegengeblieben ist. Welch ungleicher Kampf. Die Lehrkräfte waren sehr streng, und der Tatzenstock stand in der Ecke griffbereit.
Zum Stundenwechsel hatten wir kurz Gymnastik. Wir mußten in unseren Sitzbankreihen aufstehen, und es wird wohl ausgesehen haben, wie wenn eine Kompanie Soldaten antritt. Dann beide Hände sich kurz umkreisen lassen. Setzen!
Das Fach Heimatkunde wurde von einem Referendar unterrichtet. Das war eine willkommene Abwechslung. Er erzählte über die Stadt München im Mittelalter, und wir sahen Bilder einer unzerstörten Stadt. Das wirkliche München hingegen war völlig anders. Eine Fahrt mit der wiedereröffneten Trambahn führte durch Ruinen, vorbei an hohen Schuttbergen. – Eines aus der Heimatkunde aber bleibt mir unvergeßlich in Erinnerung: die Durchführung einer mittelalterlichen Hinrichtung am Galgen, mittels Zeichnung genau erläutert …
Der Schulunterricht war in der dritten Klasse immer nachmittags. Im Sommer konnte ich mit meinem Kinderfahrrad, das natürlich gebraucht gekauft worden war, nach Feldmoching fahren. Die Verkehrsregeln waren damals noch im Anfangsstadium. Auf der Feldmochinger Straße, damals noch schmal und mit holprigem Kopfsteinpflaster, konnten wir tun und lassen, was wir wollten, links fahren, rechts fahren, freihändig fahren, fahren ohne Licht, jemanden auf dem Gepäckträger oder Lenker mitnehmen, zu viert in der Mitte der Straße gehen. Und die Verkehrszeichen? Es gab nur das Schild „Achtung Bahnschranke“ in der Fasanerie. Aber es gab schon ein Preisausschreiben für richtiges Verkehrsverhalten, und mein Bruder Heini reimte beim Frühstück sofort eine neue, einprägsame Verkehrsregel: „Fahre rechts und auf dem Radweg, sonst sind dir gleich zwei Mark weg.“ Doch einen Radweg gab es hier weit und breit nirgendwo, und Autos begegneten einem höchst selten. Das wichtigste am Fahrrad war ein Schloß zum Absperren, denn Räder waren wertvoll und wurden oft gestohlen.
Eines Tages erschien die Ortspolizei im Schulhof. Fahrradkontrolle, mitten im Unterricht. „Warum hat das Fahrrad kein Licht?“ – „Weil ich nachts nie fahre.“ – „Aber die Vorderradbremse geht auch nicht.“ – „Ja, ich fahre ja ganz langsam.“ – „Das muß aber gerichtet werden!“ – „Jawohl!“ Die Vorderradbremsen von damals, falls sie überhaupt funktionierten, waren aber so gebaut, daß man eher stürzen als bremsen konnte, man hat es gerne sein lassen, sie zu benützen.
Eine Fahrrad-Kettenschaltung war äußerst selten zu sehen. Mein älterer Bruder träumte jedoch schon damals von einem Rennrad, das unbezahlbar war. Er hat sich selber aus gefundenen Teilen ein Rad zusammengebaut – natürlich ohne Gangschaltung, aber mit einem gebogenen Rennlenker. Der Rahmen wurde blau gestrichen und – damit es schnittiger wirkte – mit weißen Zierlinien versehen, wodurch es immerhin schon rennradähnlich aussah. – In einer Unterrichtsstunde sind wir nach Pflanzen gefragt worden. Und wir haben halt aufgezählt, was wir auf den Äckern während des Heimweges alles entdeckt hatten. Der Bichler Theo hatte „Soachruam“*) gesehen, gemeint waren Weißrüben, aber das getraute er sich nicht zu sagen, denn dieses Wort stinkt ja geradezu nach Urin, deshalb sagte er höflich „Seichrüben“ – und patsch, schon hatte er eine Watschen eingefangen.
Ein Besuch im Münchner Marionettentheater fällt mir zum Schlusse noch ein. Jeder Schüler, angefangen in der linken Bankreihe am Fenster, mußte hernach im Unterricht nacherzählen, was er im Theater gesehen hatte, eine Stunde lang gleichförmig immer wieder dasselbe. Dann kam schließlich ich daran. Ich erzählte aber dem Lehrer Amann etwas viel Spannenderes: wie die neue Wasserleitung vor unserem Hause von einer Tiefbaufirma gelegt wurde, in allen Einzelheiten, die ich genau beobachtet hatte. Das hat Lehrer Amann offensichtlich selber besser gefallen, nachdem er fünfzigmal das gleiche gehört hatte. Er hat gleich mitgedacht und mich immer wieder verbessert …
Irgendwann in dieser Zeit sind wir nach dem Unterricht gemeinsam von der Schule zur Feldmochinger Kirche hinübergegangen. Die seit dem Kriege fehlenden Glocken wurden wieder emporgezogen. Und dann wurde eine lange, friedliche, bessere Zeit eingeläutet. Nach meiner langen Wanderung durch die weit zurückliegende Vergangenheit betrachte ich ein letztes Mal nachdenklich das Mosaikbild und die Inschrift am neuen Schulhause: Das Volk verjüngt sich ewig in seiner Jugend.
Harald Landgraf, September 2005